Reifen Einmaleins

Anzeige
Die Anforderungen an Motorradreifen sind ungefähr wie jene an die sprichwörtliche eierlegende Wollmilchsau. Sie sollen den nötigen Grip in jeder Situation aufbauen, egal ob 170 PS losgelassen oder Schräglagen über 45 Grad gefahren werden und das noch wenns geht im Nassen. Dazu ist natürlich eine Lebensdauer ab 10.000 km aufwärts gefordert sowie ein optisch ansprechendes Profil-Design, passend zur jeweiligen Maschine. Und breit soll er sein, wenns geht breiter als der des Club-Kollegen.

So unglaublich es klingen mag, moderne Motorradreifen kommen diesem Ideal bedenklich nahe, die Fortschritte, die hier in den letzten Jahren gemacht wurden, sind erstaunlich. Noch in den frühen Siebzigern wurde meist das Metzeler Pärchen (Rille 10 vorne, Block C hinten) oder ein Dunlop TT 100 aufgezogen, der dazu noch mit dem Gilster-Hobel feinstprofiliert wurde. Dabei handelte es sich um Rasierklingen auf einem Holzbrettchen, das ähnliche Muster wie die heute so hochgepriesenen Lamellen-Winterreifen erzeugte. Trotzdem war Grip nach heutigen Verhältnissen ein Fremdwort und bei Regen empfahl es sich, an Schräglagen nicht einmal zu denken. Heute bieten die Gummis wesentlich mehr Sicherheit in jeder Situation, sowohl auf der Rennstrecke, der Strasse oder im Gelände. Reifen ist jedoch nicht Reifen, die Fahrwerke der modernen Motorräder reagieren oft recht deutlich auf unterschiedliche Besohlung.


Die Technik: 
Neben der Gummi-Mischung, die für die entsprechende Haftung verantwortlich zeichnet, ist der Unterbau für das Fahrverhalten entscheidend. Heute wird (wie auch schon bei Autoreifen längst üblich) zwischen Diagonal- und Radialreifen unterschieden. Prinzipiell ist der Aufbau eines Reifens gleich. Innen befindet sich eine Luftundurchlässige Gummischicht, die bei einem schlauchlosen Reifen die Funktion des Schlauches übernimmt. darüber sind eine oder mehrere Lagen aus verschiedensten Geweben oder auch Kunstfasern angebracht, im Fach-Chinesisch Karkassen genannt. Sie sind für die Form und die Festigkeit des Reifens verantwortlich. Darüber gibt's (je nach Bauweise) noch einen Gürtel oder gleich die Gummischicht, bestehend aus Naturkautschuk, Russ, Schwefel und noch einer Menge gut geheim gehaltener Chemie.

Der grosse Unterschied zwischen Diagonal- und Radialreifen besteht in der Anordnung und der Anzahl der Karkasslagen.



Diagonalreifen besitzen mehrere Lagen mit diagonal verlaufenden Fäden in Winkeln von etwa 25 bis 35 Grad. Diese Anordnung ergibt eine sehr steife und feste Seitenflanke des Reifens, bei hohen Geschwindigkeiten dehnt er sich jedoch aus, der Reifen "wächst". Daher werden Diagonalreifen im Gelände eingesetzt, oder bei langsameren Bikes, die aber eine hohe Belastung auf den Pneu bringen. Um den Diagonalreifen für höhere Geschwindigkeiten tauglich zu machen, wird er zuweilen mit einem Gürtel über der Karkassenlage versehen, der diese Ausdehnung in Grenzen hält. Der Stand der Technik sind jedoch Radialreifen. Hier sind die Karkasslagen in 90 Grad zur Laufrichtung angeordnet. Meist wird nur eine, maximal zwei Lagen verwendet, über die die Gürtellagen gewickelt werden. Diese Reifen verschleissen gleichmässig, wachsen nicht und erwärmen sich weniger als Diagonalreifen. Weiters sind sie durch den Einsatz von speziellen Materialien wie etwa Kevlar sehr leicht, bei den heutigen breiten Schlappen eine sehr wichtige Eigenschaft. Der letzte Schrei sind Radialreifen mit 0-Grad Gürteln, das heisst der Gürtelfaden ist genau in Laufrichtung verlegt. Dies ist sehr aufwendig, verbessert den Geradeauslauf und Erwärmung nochmals.



Der Nachteil der Radialreifen ist die relativ weiche Seitenflanke, daher werden wie schon oben erwähnt im unbefestigten Terrain Diagonalreifen eingesetzt. Wie auch im PKW-Bau geht auch bei Motorrädern der Trend zu Breitreifen. Im Gegensatz zu den vierrädrigen Gefährten, die keine Schräglage kennen, ist dem Hang zur Breite eine Grenze gesetzt. Sie heisst momentan 200 mm. Im Rennsport allerdings bleibt man meist darunter, denn die Tests haben ergeben, dass allzu breite Reifen aufgrund ihrer geringeren Wölbung Probleme im Handling bereiten und ausserdem in voller Schräglage weniger Auflagefläche bieten als ihre schmäleren Brüder. Trotzdem hat mittlerweile jeder Hersteller mindestens einen überbreiten Schlappen im Angebot, Mode geht vielen Kunden einfach über Zweckmässigkeit.


Von Gesetzen und Dimensionen 
Da die Bereifung unbestritten zu den wichtigen Bauteilen eines Motorrades gehört, ist sie natürlich auch gesetzlich reglementiert. Das augenscheinlichste Merkmal ist die Profiltiefe. Hier wurde in der letzten Zeit einiges geändert, erstaunlicherweise zum Vorteil der Biker. Galt früher für die Exekutivorgane weniger 2 mm Profiltiefe, gemessen an der abgefahrensten Stelle als Grund für eine Amtshandlung bestehend aus dem Entzug des Kennzeichens, darf der Reifen nun 1,6 mm aufweisen. Hat er weniger, muss dies an 3/4 der Lauffläche der Fall sein, ansonsten kann die Tafel am Motorrad bleiben. Für die unverbesserlichen Kurvenwetzer bedeutet dies, der linke und der rechte Rand kann ruhig eine "Glatz´n aufweisen, solange diese nicht mehr als 1/8 der gesamten Lauffläche ausmacht, ansonsten aber noch genug Profil da ist.



Ein besonderes Augenmerk wirft der Gesetzgeber auf die Einhaltung der im Typenschein vorgeschriebenen Dimensionen. bei modernen starken Motorrädern ist aber nicht nur diese vorgeschrieben, sondern auch die genaue Reifentype sowie (vielleicht) einige Alternativen. Das heisst im Klartext, dass jede Änderung des Reifens, z.B die Umrüstung auf den neuesten XY eine Eintragung in den Typenschein erfordert. Dazu ist eine Unbedenklichkeitserklärung des jeweiligen Importeurs notwendig, der diese nach eingehenden Tests meist auch ausstellt. Ist ein Reifen nicht eingetragen, aber trotzdem aufgezogen, kann dies im Falle eines Unfalles durchaus zu Komplikationen führen, da sich das Motorrad nicht in dem Zustand befindet, in dem es typisiert wurde. Vorbildlich hat dies Honda Austria gelöst. In einem kleinen Heftchen sind alle gängigen Typen mit der Erstausrüstung und den von Honda freigegebenen Alternativbereifungen angeführt. Diese Reifenliste gilt nicht nur als jeweilige Unbedenklichkeitserklärung, sie enthält auch eine Legende über die wichtigsten allgemeinen Reifendaten, einen Gesetzesauszug, sowie die Adressen der Reifenimporeure und der Ämter der Landesregierungen, die die Eintragungen in den Typenschein vornehmen.

Bei Umstellung auf einen anderen Reifen gibt's normalerweise kaum Probleme, mehr schon wenn auch die Dimension gewechselt wird. Ein zu breiter Reifen auf einer schmalen Felge kann oft zu einer drastischen Veränderung des Fahrverhaltens führen. Allerdings gibt es hier auch Ausnahmen, so z.B. bei Motorrädern mit extrem breiten Vorderreifen. Hier kann ein etwas schmälerer Reifen durchaus die Lenkpräzision und das Handling verbessern, jedoch ist auch hier unbedingt eine Rückfrage beim Fachhändler oder Importeur zweckmässig.


Von den vielen Zahlen und Kürzeln auf der Reifenflanke
Unter der Reifendimension wird meist die Angabe über die Breite verstanden. Doch dies ist nur ein kleiner Teil der Zahlen und Buchstabenreihe an den Reifenflanken. Was bedeutet nun die Bezeichnung "130/90-16 67H" wirklich? Nun, das ist gar nicht so kompliziert wie es den ersten Anschein hat. "130" ist die Breite, hier in mm die 90 hinter dem Schrägstrich gibt das Verhältnis der Reifenhöhe zur Breite in Prozent an. Hier misst die Höhe 90% der Breite. Steht nichts so ist das Verhältnis 1:1 (kommt bei den breiten Reifen selten vor, sie würden den typischen Ballonreifen-Look aufweisen). Weiter im Text mit der 16, sie gibt den Felgendurchmesser diesmal in Zoll an, die 67 dahinter ist der LoadIndex, der Aufschlüsse über die Belastung des Reifens gibt. Hier hält er locker 307 kg aus. Das H schliesslich ist der Schlüssel für die Höchstgeschwindigkeit, in diesem Fall 210 km/H. Der Loadindex wird übrigens nicht immer angegeben, vor Allem nicht bei Radialreifen. Dafür kann man auch die Abkürzungen TL für Tubeless (Schlauchlos) oder TT (TubeType) finden. Bei Reifen für ältere Motorrädern wird auch noch die Breite in Zoll angegeben z.B 4.00-H18. Genug verwirrt? Okay, nun versuchen sie einmal die Dimensionsbezeichnung 190/50 ZR 17 zu entschlüsseln!


Der Stand der Dinge 
Die Motorrad-Reifentechnik ist sehr weit fortgeschritten, Lebensdauer und Haftung wurden mehr verbessert, als die Leistung der Motorräder gestiegen ist. Dies ist bemerkenswert, denn wir sind nun schon bei fast 200 PS. Faktisch alle Hersteller haben heute Reifen im Programm, die sowohl für die Strasse als auch für einige schnelle Rennrunden gleichermassen gut geeignet sind. Ein Beispiel dafür ist der neue Bridgestone BT-002 Racing Street, der aus dem BT-002 Pro entwickelt wurde. Wie bei modernen Reifen üblich wurde ein 0 Grad Stahlgürtel verwendet, allerdings hier mit einer Endloswicklung. "Diese Technik gibt dem Reifen mehr Stabilität bei weniger Gewicht" Erzählt Bridgestone Zweiradspezialist Harald Kissler. Zudem besitzt der Vorderreifen eine Lauffläche mit unterschiedlichen Gummi-Mischungen (Schulter soft, Mitte medium). Das sorgt für guten Kurvengrip bei längerer Lebensdauer. Kissler erzählt, dass diese Verfahrensweise schon seit gut 15 Jahren angewendet wird, auch bei Mittelklasse-Bikes wie der Honda CB 500. 

Silikate in der Gummimischung sorgen für schnelle Erwärmung und damit Grip schon nach kürzester Zeit, Dies ist auch gut so denn am Weg ins Stamm-Cafe bleibt der Reifenwärmer in der Garage. Wir konnten uns jedenfalls auf dem Schwergewicht Yamaha MT-01 von der Qualität des BT-002 überzeugen, sicheres und exaktes einlenken gehören ebenso zu den guten Eigenschaften des Reifens wie sehr gute Eigenschaften bei Nässe. Etwas abrupt wird ein Slide eingeleitet, doch darf man hier das extreme Drehmoment des 1,7 Liter V2 der Yamaha nicht vergessen.


Und die Zukunft?
Die Entwicklung am Reifensektor geht in Riesenschritten voran, die Cheftester heissen Rossi, Capirossi, Hayden und Co. Auf keinem anderen Gebiet werden die Erkenntnisse von der Rennstrecke so direkt und prompt umgesetzt wie bei den Motorradreifen. Neben der Sache mit dem Grip und dem Aufbau beschäftigen sich die Techniker auch mit Rollwiderstand und Umweltverträglichkeit. So werden jetzt nach und nach Produkte mit Mischungen ausgeliefert, die Silizium Füllstoffe enthalten und weniger umweltfeindlichen Russ benötigen. Solche Reifen leben noch länger, erwärmen sich weniger und haben den optimalen Nassgrip- sagen die Hersteller. Zur eierlegenden Wollmilchsau in Reifenform ist es offensichtlich nicht mehr weit.

Text: Ing. Franz Farkas

Autor

Bericht vom 06.02.2007 | 31.235 Aufrufe

Du hast eine Neue?

Verkaufe deine Motorrad Occasion im 1000PS Marktplatz.

Inserat erstellen

Empfohlene Berichte

Pfeil links Pfeil rechts